Von der Sehnsucht zu 'Sein' - Ein Reisebericht

Wie eine flüchtige Begegnung ein Leben veränderte und zum Start einer neuen Bewegung führte.

Da kam er angetuckert, der lotterige alte Ford Pick-up F150. Mein Transportmittel für die nächsten dreieinhalb-Stunden Fahrt durchs Wüstengebiet Kolumbiens. Ich war gerade in der Halbzeit einer 4-monatigen Reise angelangt und brauchte dringend etwas Ruhe. Da kam ein Ausflug nach Cabo de la Vela, einem abgelegenen Fischerdörfchen an der Nordwestküste der Guajira-Halbinsel, gerade richtig: Schlafen in der Hängematte, No Internet, No Cellphone, No Connection zur Aussenwelt.

Nie hätte ich gedacht, dass diese paar Tage Abgeschiedenheit für mein weiteres Leben so prägend werden würden und ich, nach meiner Rückkehr in die Schweiz alles in Frage stellen sollte. Anyways, zurück zum Pick-up.

Da stand er. Weiss und unbeladen, ready für das nächste Wüsten-Abenteuer. Freundlich wurde ich von Chauffeur Alfredo begrüsst und gebeten, bereits im Fahrzeug Platz zu nehmen, währenddessen er und seine Helfer den Pick-up noch mit Lieferwaren füllten. "Si, claro, no problema", entgegnete ich gelassen und setzte mich auf den abgewetzten Ledersitz im Wagen. Der Pick-up rüttelte und schüttelte. Menschen schwirrten um ihn herum, gröhlten und rauchten Cigarillos. Ein, zwei, drei weitere Leute stiegen zu mir ins Auto. Die Last des Fahrzeugs wurde schwerer und schwerer. Plötzlich realisierte ich, dass sich die Vorderräder des Fords langsam vom Boden lösten.

"No te preocupes", beruhigte mich meine Sitznachbarin Rosa, als sie mein erschrockenes Gesicht sah. "Sobald sich Fahrer Alfredo zu uns in den Wagen setzt, gleicht sich der Schwerpunkt der Achsen wieder aus."

Na dann... Kann ja wohl nichts mehr schief gehen, entgegnete ich ironisch.

Eine gefühlte Ewigkeit später fuhren wir los. Gemächlich unterwegs ob der grossen Fracht. Immerhin war mir jetzt klar, weshalb mir geraten wurde, für die Reise nach Cabo de la Vela ein Taxi zu buchen und nicht die öffentlichen Verkehrsmittel zu benutzen. Tja...too late.

Unterwegs hatte ich reichlich Zeit, mich mit meiner Sitznachbarin Rosa anzufreunden. Ich erfuhr, Rosa war eine Angehörige des indigenen Volkes 'Wayuu', einer ethnischen Minderheit in der Provinz La Guajira. Die 'Wayuu' sehen sich seit Jahrzehnten mit Unterdrückung und Missständen konfrontiert. Gewalt, Vertreibung, Morde, Erpressung. Gründe für diese Misere sind einerseits die für den Drogenhandel lukrative Nähe zur Grenze Venezuelas sowie die hohen Salz- und Kohlevorkommen in La Guajira. Letztere führen durch den massiven Abbau im Bergwerk 'El Cerrejón' zu etlichen Umweltproblemen. Die Bevölkerung lebt mit Wasserknappheit, Luftverschmutzung und Krankheiten.

Ich war baff. Rosa wirkte auf mich nicht wie jemand, der vom Leben so gefordert wurde. Sie schien fröhlich und sehr ausgeglichen. Die Geschichten die sie erzählte, stimmten mich aber traurig. Weshalb hatte ich noch nie etwas von diesen Ungerechtigkeiten gehört? Konnte ich etwas dagegen unternehmen? Mein Blick schweifte aus dem Fenster. Sand und Staub wohin das Auge reichte, ab und zu ein paar alte Strommasten und schäbige Barracken. Warum wollte man sich hier freiwillig niederlassen?

Unser Wagen hielt. Rosa stieg aus und forderte mich auf, ihr zu folgen: "Venga Stefanie, mira esta es mi casa". Schau Stefanie, das ist mein Zuhause. Ich sah auf ein mit Stroh und Holz umzäuntes Gelände, darin eine kleine offene Behausung mit Blechdach. "So wohnst du Rosa?", "Ja, mit meiner Schwester und ihren Kindern", entgegnete sie stolz.

Ein selbstgebautes Haus mitten in der Wüste, ohne direkten Wasseranschluss, geschlossene Türen oder materiellen Schnick Schnack. Ohne Internet, Verkehr und Nachbarn. Eine neue Welt tat sich für mich auf. Ich war beeindruckt von Rosa's Stärke und der Akzeptanz, die Dinge so zu nehmen wie sie sind.

"Stefanie, was soll ich tun, ich bin nunmal hier geboren, hier sind meine Wurzeln. Das Universum spülte mich nicht ohne Grund in diese Wüste, also mache ich jetzt das Beste draus. Ich BIN einfach. Einfach glücklich."

Rosa gab mir eine Flasche Fanta als Proviant mit auf den restlichen Weg und verarbschiedete sich mit einer herzlichen Umarmung von mir.

"Mache das Beste aus dem was Du vom Leben bekommst. Adiós amiga."

Wow. Rosa's Sicht auf das Leben und unser Dasein, bewegten mich tief. Wieso will ich als Stefanie immer mehr, immer weiter? Wieso vergleiche ich mich mit anderen und akzeptiere nicht, wer ich jetzt bin und was ich jetzt kann? Nach was strebt unsere Gesellschaft und was ist wirklich wichtig? Die nächsten Tage in Cabo de la Vela drehten sich meine Gedanken nur um diese flüchtige Begegnung. Tausend Ideen sprudelten aus mir heraus. Ich fühlte mich frei, ermutigt und stark und ich wusste, Rosa hatte mein Leben für immer verändert.                                        

Autorin: Stefanie Giardina

Gehe wachsam durch den Tag. Denn auch kurze Begegnungen prägen dich. Menschen inspirieren! Du inspirierst! Genau jetzt, mit dem was du bist. Du brauchst nichts zu ändern, nichts zu werden, sondern einfach zu SEIN.

Die Begegnung mit Rosa ereignete sich im Jahre 2017. Aus dem einschneidenden Erlebnis entwickelte Stefanie das Projekt 'Klub Rosa', mit welcher Sie Geschichten wie die von Rosa in die Welt hinaus trägt. Geschichten, die aufklären, ermutigen und inspirieren.

Die Idee für die Zeitschrift 'Projekt Z', soll ein weiterer Schritt werden, um den unglaublichen Spirit und die Freude von Rosa überall zu verbreiten und Menschen darin zu unterstützen, ihr bestes Selbst zu leben.