Ein Moment mit Fatemeh.

Letztens habe ich mich entschieden, mehr zu schreiben. Einfach so. Aus dem Impuls heraus, in Momenten des Alltags. Meine Beobachtungen teile ich hier und mit dir. Mögen sie dich inspirieren, deinen eigenen Alltag wach und mit allen Sinnen zu erleben. Es folgt ein Moment mit Fatemeh.

Am Ort wo ich wohne, lebt eine “Putzfrau”. Fatemeh ist ihr Name. Fatemeh* ist 32, verheiratet und Mama von zwei Kindern. Der Junge zwölf, das Mädchen zehn. Fatemeh träumt von einem guten Leben, einem Leben mit Perspektiven.

Vor acht Jahren kam sie dafür aus Mazedonien in die Schweiz. Liess ihr abgebranntes Haus und die bankrotte Firma ihres Mannes hinter sich. Ebenso ihren gut bezahlten Job als Biologin.

Die Schweiz wird’s richten, dachte sie.

Der Anfang war schwer. Fehlende Sprache, fehlende Freunde, fehlendes Wissen der hiesigen Sitten und Gepflogenheiten. Dann, endlich: Fatemeh’s Mann findet einen Job als Autokurier. Fatemeh selbst hat kein Glück, bekommt Absage um Absage.

Die Schweiz wird’s richten.

Mit dem Geld wird’s eng. In ihrer Verzweiflung beginnt Fatemeh die Wohnung ihrer Nachbarin zu putzen. Aus einer Wohnung werden zwei, dann drei und plötzlich ist Fatemeh “Putzfrau”. Schwarz. Für zwanzig Stutz die Stunde.

Die Schweiz wird’s richten.

Fatemeh putzt jeden Tag bis zu drei Wohnungen. Ihr eigenes Zuhause exklusive.     Mittags und Abends kochen für die Kinder, Hausaufgaben kontrollieren, Wäsche waschen. Eine Pause will sich Fatemeh nicht gönnen.

Die Schweiz wird’s richten.

Fatemeh putzt. Fatemeh ist dankbar. Doch ihre Sehnsucht ist gross. Sie wünscht sich Zeit. Sie wünscht sich Anerkennung. Sie wünscht sich ihren Job als Biologin zurück.

Die Schweiz wird’s richten.

Fatemeh’s Träume, runtergespült in die Toilette der anderen. Für ihre Familie. Für die Perspektiven ihrer Kinder. Für die Schweizer Volkswirtschaft.

Die Schweiz wird’s richten.

Fatemeh trägt Kopftuch. Kämpft mit Vorurteilen und Respektlosigkeiten. Fatemeh lernt, sich zu behaupten, für ihren Glauben einzustehen, sich zu wehren. Fatemeh tut ihr Bestes, um stark zu sein.

Die Schweiz wird’s richten.

Ich höre Fatemeh in der Wohnung unter mir. Sie weint. Gibt auf. Für einen kleinen Moment liegt ihre Wunde offen auf dem Küchentisch der Nachbarn. Ich bin perplex. Unfähig zu reagieren. Die Zeit steht still. Unsere Herzen verbinden sich. Ein kostbarer Moment. Kurz darauf, scheint die letzte Träne vergossen, Staubsauger an und weiter.

Die Schweiz wird’s richten.

Fatemeh ist ein Beispiel von vielen. Ein schmerzendes Beispiel. Ein Beispiel, das zeigt, dass die Schweiz es eben nicht richten wird. Zumindest nicht, solange wir wegsehen. Zwanzig Stutz in Schwarz, ganz ohne schlechtes Gewissen.

Fatemeh wird’s richten.


Menschen aus aller Welt kommen in die Schweiz mit einem hoffnungsvollen Herzen. Gehen in andere Länder, nehmen ihre Träume mit. Träume, die alsbald versinken unter bürokratischen Barrieren und Kulturschock. Sie weichen der tiefen Dankbarkeit überhaupt zu existieren.

Und die Frage nagt – wie schaffen wir es, eine Welt zu kreieren, in der jeder Mensch, unabhängig von Geschlecht, Alter, Herkunft, sein volles Potenzial entfalten kann?

Autorin: Stefanie Giardina

* Name, Alter und Herkunft wurden für diesen Artikel abgeändert.